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Marktplatzbrunnen Basel, z.B. 1. Nov. 1986, 00.19 h
Bildhauerin. Geboren am 16. Januar 1942 in eine Basler Familie; aufgewachsen in Bern und Freiburg im Üchtland; Eltern Hans und Erica Eichin-Grether (gest. 1946); 1967 Heirat mit Gerhard Hiesel, 1969 Geburt des Sohnes Florian in Basel.
E. absolvierte in den 1960er Jahren eine künstlerische und handwerkliche Ausbildung: 1960–64 Besuch der Kunstgewerbeschule Bern sowie Steinmetz- und Bildhauerlehre in Thun. Praktika und Studienaufenthalte in Israel und Griechenland. 1965 erste eigene Einzelausstellung in Bern und bis 1966 Restauratorin an der Münsterbauhütte Bern angestellt. Erstes weibliches Mitglied des Bau- und Holzverbandes der Schweiz. E. kämpfte für den Mindestlohn, was zu Konflikten mit der Münsterbauhütte und ihrem Weggang führte. 1966 Skulpturenrestauratorin auf Ausgrabungen und in Museen auf Samos, 1967 Abschluss ihrer Steinbildhauerlehre; Restauratorin auf der Kabirion-Ausgrabung bei Theben. In den folgenden zehn Jahren Weiterentwicklung ihrer bildhauerischen Werke und Ausgrabungsrestauratorin in Tiryns.
Nach der Geburt ihres Sohnes lebte sie ab 1969 in Wildtal bei Freiburg i. Br. (D); ab 1972 kulturpolitisch aktiv für den Bundesverband Bildender Künstler und die Gewerkschaft Kunst im Deutschen Gewerkschaftsbund (bis 1980). Seit 1979 arbeitet sie vorwiegend in Basel.
Stil und Themen
Bis 1977 arbeitete E. bevorzugt mit Stein, wandte sich dann der Bronze zu. Mit ihren Werken überführt sie die Themenhaltung des Stilllebens aus der Malerei in die Dreidimensionalität – mit Gegenständen des täglichen Lebens wie Blumen oder Aktenordnern. Zentrale Themen sind die Transformationen allegorisierter Tugenden (Helvetia (Allegorie)) und geistig-künstlerischer Disziplinen. Verkörpert durch Frauenfiguren wie Helvetia oder Musen - als Projektionsfläche humanistischer Leitideen wie Menschenrechte und Freiheit. Vielfach dargestellt von jenen, denen diese Ideale historisch verwehrt wurden - insbesondere von Frauen, denen die gesellschaftliche Gleichstellung bis heute nicht durchgängig gewährt ist. Dieses Heraustreten ist nicht nur ein stilistisches, sondern ein inhärentes Sinnbild von E.s. Arbeiten: die weibliche Figur durchbricht die ihr zugeschriebene Rolle. E.s Werke waren von Beginn an politisch und gesellschaftskritisch intendiert - ein Anspruch, mit dem sie auf Widerstand stiess. Kunst, so hiess es, solle nicht politisch sein.
Gleichsam aus dem vorgegeben Raum gelöst, hält E. diese Figuren in einer dauerhaft-zeitlosen Form fest – als Erinnerung und Mahnung in einer Reihe bedeutender Werke, die nachfolgend exemplarisch das künstlerische und politische Anliegen E.s beleuchten.
Helvetia auf der Reise
Die 1980 auf dem Brückenpfeiler des Unteren Rheinwegs eingeweihte Helvetia auf der Reise (Kunstkredit Basel) blickt müde auf den Rhein, den Kopf mit der rechten Hand stützend, den Lorbeerkranz mit der linken im Schoss haltend. Ihr Mantel neben sich über der Brüstung liegend; Speer, Schild und Koffer hinter sich auf dem Boden stehend. Die Landesmutter verlässt die ihr auferlegte Rolle und gesellschaftlich vorgegebenen Rahmen. Sie reist durch die Schweiz, pausiert in Basel – suchend, nachdenkend, aber nicht kapitulierend.
E.s Worte zu Helvetia sind auf einer Bronzetafel am Geländer verewigt:
Eines Tages verlässt Helvetia ein Zweifrankenstück, mischt sich unter das Volk und unternimmt eine längere Reise. Unterwegs kommt sie auch nach Basel. Nach einem anstrengenden Gang durch die Stadt stellt sie Schild, Speer und Koffer ab, legt den Mantel über die Brüstung und ruht sich aus und blickt nachdenklich rheinabwärts.
Die Skulptur trägt die Botschaft, dass sich die Frau nicht nur aus der Umklammerung befreite, sondern auch unterwegs ist – zu Neuem, Unbekanntem, dem Alten entwachsen. Ironischerweise wollten die Direktoren der Sandoz AG, für die E. später ein Werk schaffen sollte, etwas Gefälliges – so, wie sie es vermeintlich in der Helvetia sahen.
Neun Musen
Trotz Widerständen – etwa wurde kritisiert, dass kein männliches Wesen dargestellt sei – beauftragte Freiburg i. Br. 1984 die Künstlerin offiziell mit der Arbeit. In den folgenden sieben Jahren schuf E. die neun Figuren.
Wie Helvetia löst E. auch die Neun Musen aus ihrem angestammten Kontext. Sie sind als Transformationen personifizierter Künste und Wissenschaften zu verstehen – zugleich zeigen sie Frauen, die erschöpft und nachdenklich wirken. In einer Gruppe sind sie schweigend beieinander versammelt und warten auf das Ende des Streits: Inter arma silent musae. (Bettina Eichin, S. 107).
Anders als bei klassischen Darstellungen sind die einzelnen Musen hier nicht identifizierbar. E. verzichtete bewusst auf ihre individuellen Attribute, mit denen die Musen der Antike üblicherweise erkennbar sind. Stattdessen zeigt sie neun namenlose Frauen, in schwere Mäntel gehüllt, ruhend und nachdenklich. Die Symbole und Namen der Musen finden sich in der Skulptur Musenwerkzeug.
E. hebt die Neun Musen aus ihren tradierten Rollen als (Ver)Mittlerinnen zwischen göttlicher und menschlicher Welt – Rollen, die keine schöpferische Autonomie vorsahen – und befreit sie in eine anonyme Individualität, Weiblichkeit und letztlich Frau-Sein.
Marktplatzbrunnen Basel, z.B. 1. Nov. 1986, 00.19 h
1986 beauftragte der Chemiekonzern Sandoz AG anlässlich des 100-jährigen Firmenjubiläums die Künstlerin mit der Gestaltung des Brunnens für den Basler Marktplatz – als Geschenk an die Stadt, der seit der Umgestaltung des Platzes zu Beginn des 20. Jh. ein zentraler Brunnen fehlte. E.s Konzept sah einen «Brunnen der Region» vor: einen Trog aus Jura-Kalk, flankiert von zwei bronzenen Tischen – der eine reich gedeckt mit regionalen Ernteerträgen, der andere gestaltet als Informationstisch zu Wahlen oder auch Demonstrationen sowie Verweise auf das Reaktorunglück von Tschernobyl am 26. April 1986. Darunter Schachteln mit politischem Material wie Transparente und neben dem Tisch eine Basler Trommel mit Fasnachtsmaske. Mit Blick auf den Standort vor dem Basler Rathaus wollte E. damit zentrale Instrumente politischer Teilhabe der Bürger:innen sichtbar machen.
Vor der Umsetzung des Konzepts kam es zur Katastrophe von Schweizerhalle: am 01. November 1986 um 00:19 brannte eine Lagerhalle der Firma Sandoz AG und das mit Chemikalien belastete Löschwasser führte zu einer der grössten Umweltverschmutzungen weit über Basel hinaus; es vergiftete den Rhein, unzählige Tiere verendeten.
E. wollte die Katastrophe in die Skulptur einarbeiten – zunächst stiess dies auf Zustimmung. Doch die Firma entschied sich dagegen: man wollte keine dauerhafte Verbindung zum Desaster – und entzog E. den Auftrag.
Ohne gesicherte Finanzierung entschied sich E., auf eigenes Risiko weiter an der Skulptur zu arbeiten. Mit dem Verlust des Auftrags veränderte sich auch das Konzept: der ursprünglich geplante Trog entfiel, den Tisch mit den Ernteerzeugnissen realisierte E. hingegen wie vorgesehen. Auf dem zweiten platzierte sie nun das Gedicht "Die Vergänglichkeit" des Basler Schriftstellers Johann Peter Hebel. Neben dem zweiten Tisch steht die Fasnachtstrommel, darauf Holzschlegel und ein Umhang, gekrönt von einer Totenkopfmaske. Heute befindet die Skulptur im Kreuzgang des Basler Münsters.
Menschenrechte 1776, 1789, 1791 und 1948
Ein weiteres Werk, mit dem sich E. mit Gleichberechtigung, Rechte, Freiheit und Frau-Sein auseinandersetzt, entstand in der Hauptphase zwischen 1997-2007.
Das Menschenrechtsdenkmal besteht aus drei Bronzetafeln – je 2,5 m hoch und 5 m lang – die ein Dreieck bilden. Auf den drei Seiten sind Auszüge grundlegender Menschenrechtserklärungen zu lesen:
- 1776 Virginia Bill of Rights: Unabhängigkeitserklärung der USA
- 1789 La déclaration des droits de l’homme et du citoyen: erste Erklärung nach der Französischen Revolution
- 1791 La déclaration des droits de la femme et de la citoyenne: von Olympe de Gouges verfasste feministische Antwort auf die Erklärung der Französischen Revolution, in der sie die Gleichstellung der Frau einfordert
- 1948 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: UNO-Charta
Durch einen Spalt in den Innenraum blickt man auf die Schreibstube des Aufklärung (Installation mit Schreibtisch und -werkzeug), die durch ein dreieckiges Fenster in der Decke beleuchtet wird. Das Thema ist Lumière, und die überall anzutreffende Zahl 3 symbolisiert Liberté, Egalité und Paix.
Das Werk war 1998 ein Geschenk an die Stadt Basel – anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Unblutigen Basler Revolution und an Peter Ochs, zum 200-jährigen Jubiläum der Helvetik 1 und zum 150-jährigen Bestehen des Bundesstaates – und sollte auf dem Petersplatz vor dem Hauptgebäude der Universität stehen.
Es existiert auch eine «Berner» Version. Anlässlich des 150-jährigen Bestehens des Bundestaates löste E. die bronzenen Texttafeln aus dem ursprünglichen Kontext heraus und markierte damit den Abschluss des Skulpturenweg Grauholz 1998. Auf Initiative von Parlamentarier:innen entstand daraus ein sechsteiliges Triptychon, das 2000 dem Parlament übergeben wurde. Beide Werke – die Basler Skulptur und das Berner Triptychon – befinden sich heute in Depots.
Eine umfassende Werkliste der Künstlerin ist u.a. im Buch Bettina Eichin von 2007 zu finden (s. Bibliografie).
Preise
- 1978 Wettbewerbe Mittlere Brücke Basel und Fussgängerzone Freiburg i. Br.
- 1988 Kulturpreis des Deutschen Gewerkschaftsbundes
- 1992 Kulturpreis des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes
- 2005 Gleichstellungspreis Beider Basel
Texte von und mit Bettina Eichin
- Zwischen Marseillaise und Entsagung. Eine Baslerin auf dem Pfad der Aufklärung; in: Stefan Howald (Hrsg.), Projekt Schweiz. Vierundvierzig Porträts aus Leidenschaft (2021), S. 151-162.
- Gedanken zu Liberté, Égalité, Fraternité (s.d.), (Flugblatt für die Literaturtage Solothurn, 28. Mai 2022)
- Neun Musen; in: Freiburger FrauenStudien 19, Bd. 1 - Erinnern und Geschlecht (2006); S. 303-308.
- Ursa Krattiger und Bettina Eichin, Goldene Lettern auf dem Venusspiegel : im Gespräch mit der Bildhauerin Bettina Eichin; in: Neujahrsblatt / Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige Basel, Bd. 188 (2009), S. 183-188.
Einzelnachweise
Autor*in der ersten Version: Nathalie Wüthrich, 11/06/2025
Bibliografie
Literatur
- Peter Gartmann, Bettina Eichin, Urs Breitenstein, und Gerhard Hiesel, Bettina Eichin. Basel: Schwabe (2007).
- Jana Lucas, Kleine Basler Kunstgeschichte. First edition. Place of publication not identified: Christoph Merian Verlag (2023), S. 90-96.
- Lina Gafner, Frauen und Denkmäler. Allegorien, feministische Subjekte und historische Kollektive; in: Bulletin 1/21 (13.04.2021), S. 28-32.
- Adolf Ogi, Vorwort; in: Urtenen-Schönbühl – gestern und heute. Geschichten und Geschichte (PDF), (1998).
Onlinequellen
- Lea Berger, Helvetia auf Reisen (BS): Von der alten Eidgenossenschaft bis hin zum Feminismus - wohin geht die Reise nun?; in: Mal-Denken! (s.d.); (Zugriff am: 28.05.2025).
- Brigitte Meles: «Bettina Eichin». In: SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz, (2017, erstmals publiziert 1998); (Zugriff am: 28.05.2025).
- Kurt Messmer, Heil dir Helvetia, hast noch der Töchter ja (31.07.2020 Aktualisiert am: 31.01.2022); (Zugriff am: 28.05.2025).
- Sara Janner, Das Grab von Peter Ochs - Die Erinnerungstafeln von Bettina Eichin an der Predigerkirche in Basel; in: Blog "Peter Ochs" (18.06.2021); (Zugriff am: 28.05.2025).
- Sara Janner, Bettina zu den Menschenrechten. Bettina Eichin zu "Liberté, Egalité, Fraternité"; in: Blog "Peter Ochs" (24.07.2022); (Zugriff am: 28.05.2025).
- Daniel Leutenegger, «ZUM GEBURTSTAG VIEL RECHT. 175 JAHRE BUNDESVERFASSUNG» - Ausstellung im Landesmuseum Zürich, vom 17. März bis am 16. Juli 2023; in: ch-cultura.ch – Schweizer Online-Kultur-Plattform (17.03.2023); (Zugriff am: 28.05.2025).
- Christian Dueblin, Bettina Eichin über ihr Leben, ihr Kunstverständnis und ihre Skulpturen; in: xecutives.net - The Swiss Bussiness & Culture Network (26.11.2010); (Zugriff am: 28.05.2025).
Presse
- Regierungsrat, 3 Jubiläen im 1998: 150 Jahre Bundesstaat 200 Jahre Helvetik 350 Jahre Westfälischer Frieden (Pressemitteilung), (10.09.1996); (Zugriff am: 28.05.2025).
- Peter Kniechtli, Münster-Kreuzgang soll endgültige Heimat der Eichin-Tische werden; in: Onlinereports (26.10.2007); (Zugriff am: 28.05.2025).
- Christoph Wamister; Die schubladisierten Menschenrechte; in: Onlinereports (26.04.2011); (Zugriff am: 28.05.2025).
- Stefan Howald, Menschenrechte im Zwischenlager; WOZ Nr. 2 (12.01.2017); (Zugriff am: 28.05.2025).
- Bojan Stula, Der Kampf um eine Plastik: Der Regierungsrat will «die Menschenrechte» ins Baselbiet holen; in: BZ Online (07.05.2020); (Zugriff am: 28.05.2025).
- Jana Avanzini, Eine Wahre Helvetia; in: Bajour (17.01.2022); (Zugriff am: 28.05.2025).
- swissinfo und Agenturen, «Skulptur für Menschenrechte» im Bundeshaus (06.06.2000); (Zugriff am: 28.05.2025).
- Ruedi Suter, Unter der Bundeshauskuppel haben wieder die Mannen das Sagen; in: Onlinereports (04.06.2000); (Zugriff am: 28.05.2025).
- Hermann Althaus, Die etwas anderen Musen in der Freiburger Universität; in: Badische Heimat (2006), S. 90-97; (Zugriff über: https://regionalia.blb-karlsruhe.de/frontdoor/index/index/docId/107).
Zitiervorschlag
Nathalie Wüthrich, «Eichin, Bettina (1942-)», Lexikon des Jura / Dictionnaire du Jura (DIJU), https://dictionnaire-du-jura.ch/d/notices/detail/1004014-helvetia-auf-reisen-bs, Stand: 12/06/2025.